[Das Grüne Blätt’l und osterzgebirge.org berichten eigentlich vorrangig aus dem Osterzgebirge.
Um den Blick für die Welt zu öffnen und die Auswirkungen der Klima-Entwicklungen auch auf anderen Kontinenten darzustellen, haben wir uns entschlossen, einige Beiträge von „Auslands-Korrespondenten“ zu veröffentlichen – heute aus Brasilien.]
Kippt er?
Vierzig Grad, Sonne im Übermaß und seit Wochen kein Tropfen Regen. Nein, es geht um keine Wüste, sondern um das Amazonasgebiet im August/September 2023. Die Rinderweiden und Sojafelder, die einst mal Regenwald waren: staubtrocken. Das Gras am Straßenrand: komplett verdorrt. Der verrückte Fahrradfahrer auf der Strecke verschwitzt bis zu zehn Liter Wasser (und Cola) pro Tag.
Doch die Regenwaldbäume stehen grün in ihrem Habitat. Noch? Biologisch bzw. physikalisch lässt sich kaum erklären, wie die Bäume das aushalten. Denn zu alledem fegt auch noch jeden Tag ein kräftiger, trockenheißer Wind über das Kronendach – und sorgt für extreme Verdunstung. Der Wasserbedarf dürfte den des verrückten Radfahrers um etliche Zehnerpotenzen überschreiten. Aber anders als dieser, kann so ein Baum nicht einfach seinen Flüssigkeitsverlust an der nächsten Tankstelle oder im Minimercado wieder auffüllen. Weil die Evolution solche Extreme hier nicht eingeplant hat, sind die meisten Regenwaldbäume ausgesprochene Flachwurzler. Zumal sich Bodenleben und organische Substanzen bei den hiesigen Stoffumsetzungsraten sowieso nur auf die obersten Zentimeter des Bodens beschränken. Und da kann eigentlich kaum noch Wasser-Speicherreserve da sein.
Unfassbar, dass – zumindest bis Mitte September (seither dauert die Extremdürre unvermindert an) – der Amazonas-Regenwald immer noch grün und vital aussah.
Wobei man hinzufügen muss, dass die Radfahrerperspektive auf den Regenwald in Brasilien zumeist eine sehr distanzierte ist. Entlang der asphaltierten Hauptstraßen – in meinem Fall die BR174 von (Guyana -) Boa Vista nach Manaus sowie die BR163 von Santarem nach Süden – erstreckt sich ein gerodeter und agrarisch genutzter Streifen von einigen hundert Metern bis viele Kilometer Breite. Da erahnt man den Wald meist allenfalls am Horizont, während man auf der schattenlosen Asphaltpiste dahinschwitzt. Es sei denn, ein Indigenen-Gebiet wurde durchschnitten (das Waimiri-Atrorai Reservat), oder ein etabliertes Schutzgebiet grenzt an (Floresta Nacional do Tapajos).
Richtig tolles Regenwalderlebnis bietet der „Stadtwald“ von Manaus. Da wurde und wird ein 100 Quadratkilometer (!) großes Quadrat vor Abholzung und Urbanisierung verschont. Kann man auch auf googlemaps-Luftbildern eindrucksvoll erkennen. Ein kleiner Teil davon ist mit Lehrpfad und Aussichtsturm sowie einigen Ausstellungen als „Museo de Amazonia“ erschlossen. Unbedingt erlebenswert!
Was ich nach all den Berichten der letzten Jahre viel schlimmer erwartet hätte, wäre Regenwaldvernichtung mittels Brandrodung. Gerade auch bei den aktuellen Witterungsbedingungen. Ja, man sieht Flächen mit abgebrannten Baumstümpfen, vor allem auch am Straßenrand. Aber einem richtig aktiven Waldfeuer bin ich in den vier Amazonaswochen nicht begegnet. Der politische Wille der neuen brasilianischen Regierung plus Druck ausländischer Handelspartner plus intensive Nutzung von Satelliten-Technologie scheinen relativ erfolgreich zu sein gegen die vorsätzliche Vernichtung des Regenwaldes.
Das sieht in der südlich angrenzenden Vegetationslandschaft – dem Cerrado – gänzlich anders aus. Was in der wahrscheinlich artenreichsten Waldsavanne der Welt abgeht, übersteigt die düstersten Befürchtungen! Der größte Teil davon wurde bereits abgeholzt und entweder in Rinderweiden oder in Sojafelder umgewandelt. Wobei ersteres in der Regel noch die weniger verhängnisvolle Variante ist. Schlaue Bauern lassen einen Teil der Bäume stehen, als Schattenspender für die Rinder und als Verdunstungsschutz. Damit bleibt zumindest auch etwas Lebensraumqualität für Flora und Fauna erhalten. Hier sieht und hört man noch Aras, Papageienschwärme und Tukane. Wirkt bisschen wie Hutelandschaften. Mitunter sehr malerisch, besonders in der Morgensonne.
Aber Soja, als Viehfutter für amerikanische, europäische und zunehmend chinesische Massentierhaltung, das ist eindeutig lukrativer als Rinderweide. Und so radelt man kilometerweit an Flächen vorbei, wo eben die malerischen „Hutebäume“ komplett gerodet wurden oder aktuell gerade gerodet werden. Übrig bleibt deprimierende Agroödnis bis zum Horizont.
Und das Geschäft mit Soja sowie Mais und einigen wenigen anderen Monokulturen, das brummt. Erkennbar an den unzähligen, riesigen Sojalastern, die auf der bereits erwähnten BR163 von den ehemaligen Cerrado-Gebieten des Bundesstaats Mato Grosso in Richtung Amazonashäfen donnern. Einer am anderen, nahezu Tag und Nacht. Im „Lateinamerika BikeBuch“ von 2007 wird die Strecke noch als einsame Piste beschrieben. Das war eigentlich der Grund für mich, einen Teil davon per Bus zurücklegen zu wollen. Doch die Realität sah dann ganz anders aus: die Strecke ist seither komplett asphaltiert und eben die besagte Rennstrecke der großen Sojalaster geworden. Da mit dem Fahrrad langzufahren, das wäre lebensgefährlich – aber nicht, weil der Proviant ausgehen könnte, wie der Reiseführer vor 15 Jahren noch befürchten ließ.
An der drohenden und rasant voranschreitenden Fast-Komplettvernichtung des Cerrados in historischer Rekordzeit soll die EU nicht unschuldig sein. Deren Walddefinition, die der Vorgabe zugrunde liegt, keine Produkte aus Waldvernichtung zu importieren, lässt angeblich Waldsavannen wie den Cerrado außen vor.
Für eine andere, ökologisch eigentlich höchst bedeutsame Vegetationslandschaft, ist die Fast-Komplett-Zerstörung schon weitgehend Realität: den Atlantischen Regenwald. Allenfalls 10 bis 15 % dieses tropischen bis subtropischen Regenwalds, der sich einst von der nordöstlichen Küste Brasiliens bis nach Paraguay erstreckte, sind noch erhalten. Außer Agrarwirtschaft und Holzraubbau sorgen hier nach wie vor die ausufernden Großstädte und die sie verbindenden Straßen dafür, dass bis auf wenige Schutzgebiete an steilen Gebirgsflanken die Zerstückelung weitergeht. Dabei sind die dicht von Bromelien, Moosen und anderen Epiphyten bewachsenen Bäume eine kaum zu beschreibende Pracht! Erleben kann man sie unter anderem noch in den Nationalparks an den berühmten (und trotz Menschenmassen unfassbar beeindruckenden!) Iguazu-Wasserfällen. Oder auch in den Schutzgebieten am Steilabbruch der Serra Geral zwischen den brasilianischen Bundesstaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul. Leider hat es dort bei meinem Besuch ergiebig geregnet – aber damit sollte man in einem Regenwald ja auch rechnen.
Eine speziell in den Hochlagen vorkommende Ausprägungsform beherbergt die weitausladenden Brasilianischen Araukarien – nebst vielen, vielen weiteren Arten. Eine bewunderns- und unterstützenswerte private Naturschutzinitiative namens Sociedad Chauá engagiert sich in der Nähe der Großstadt Curitiba für den Erhalt der Artenvielfalt. Pablo Hoffmann und seine Freunde, Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer suchen in den noch vorhandenen Resten der natürlichen Araukarienmischwälder nach Vorkommen bedrohter Pflanzen (vorwiegend Gehölze) und versuchen sie, in ihrer Baumschule zu vermehren. Dabei konnte wahrscheinlich schon so manche Art vor dem Aussterben bewahrt werden; und die jungen Botaniker entdecken auch heute immer noch neue Arten. Sämlinge von über 200 Arten werden derzeit in den Gewächshäusern und Freibeeten kultiviert. Da alles biologisch zugehen soll, heißt das unter Regenwald-Klimabedingungen vor allem: Unkraut jäten, jäten, jäten. Dazu sind auch immer freiwillige Helfer willkommen, zum Beispiel Wwoofer („willing workers on organic farms“). Das waren ein paar wirklich interessante, motivierende Tage bei Chauá!
Allerdings waren das auch sehr nasse Tage. Es goss wie aus Kannen, der Zufahrtsweg verwandelte sich in einen reißenden Bach. Noch heftiger betroffen waren die talab- und küstenwärts gelegenen Gebiete. Diese hatte schon im September ein – für die Jahreszeit und Region – außergewöhnlicher Zyklon erwischt. Seither kam immer neuer Regen, und jetzt, Mitte Oktober nochmal richtig viel. Die Zahl der in den Fluten umgekommenen Menschen stieg auf über 50. Und vermutlich war das noch nicht alles. Während meiner Weiterreise gen Uruguay kam nochmal eine ganze Menge Wasser vom Himmel. (Da hört auch das Radeln irgendwann auf, Spaß zu machen).
Derartige Wetterextreme sind inzwischen offenbar was so Normales, dass davon in deutschen/europäischen Medien wenig bis gar nichts mehr berichtet wird. Das betrifft auch die Amazonasdürre der letzten Monate. Dort sollen inzwischen zahlreiche Zuflüsse trockengefallen sein, der mächtige Rio Negro ist auf den tiefsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen gesunken. Die Nachrichtenagenturen vermeldeten vor einigen Wochen mal den Tod von hunderten Flussdelfinen, weil das Wasser mit teilweise 40 Grad viel zu warm geworden ist. Viel, viel dramatischer dürfte die Situation indes für die Regenwaldbäume sein.
Verantwortlich gemacht wird gemeinhin das Klimaphänomen El Niño, das aller paar Jahre nicht nur zu Strömungsanomalien im Pazifik, sondern in deren Folge auch zu Veränderungen der Niederschlagsverteilung in Südamerika (und anderen Teilen der Welt) führt. Doch die Experten von „World Weather Attribution“ haben errechnet, dass die Hitze- und Dürrewelle dieses Jahres in der Amazonasregion durch die menschengemachte Klimaerwärmung mindestens 100 mal wahrscheinlicher geworden ist.
Globale Klimaerwärmung äußert sich für uns bisher „nur“ in mehr oder weniger allmählichem Anstieg der jährlichen Durchschnittstemperaturen plus Zunahme von Witterungsextremen wie Dürren und Überschwemmungen. Richtig existenzgefährdend drohen indes sogenannte Kipppunkte, das Weltklima irreversibel in ungekannte Bereiche zu katapultieren: der „abreißende“ Golfstrom, das Auftauen der Permafrostböden mit ihren gigantischen Methanmengen – oder aber der Kollaps des Amazonasregenwalds.
Wenn man 2023 mit dem Fahrrad durch diese Region reist, kriegt man das ungute Gefühl, dass dieser Kipppunkt nicht mehr allzu fern sein könnte.
Andererseits macht es durchaus Mut, wie sich natürliche Ökosysteme hier zu behaupten vermögen, wo menschengeprägte Landschaften längst dahindorren.
Wirklich zutiefst beeindruckend, durch Südamerika zu radeln!
Viele Grüße, inzwischen aus den Anden,
und allen Lesern einen guten Start ins neue Jahr!