Natur im Osterzgebirge

Wo soll das noch hinführen? – Radeln auf und an den Anden

Wo soll das bloß noch hinführen?!
Berge von Müll vom Altiplano Boliviens bis zur Karibikküste Kolumbiens gehören – neben durchaus auch vielen schönen Erlebnissen – zu den besorgniserregenden Erinnerungen der letzten Monate Südamerikaradtour.

Selbige ist nun (Mitte März 2024) zu Ende gegangen. Mein Gefährt(e) über viele Höhen und Tiefen – das Fahrrad – dürfte hoffentlich schon demnächst zu Hause ankommen. Ich selbst bin noch bis Mitte April bei Töchterchen in Mexico. In einem dritten Grüne-Blätt’l-Artikel (nach November 2023 und Januar 2024) sollen hier noch ein paar Umwelt-Eindrücke aus den Andenländern wiedergegeben werden.

Britta (meine Frau, die die Radreise ihres rumtreiberischen Gatten geduldig ermöglicht) hatte im November ihren Jahresurlaub in Uruguay, Argentinien und Chile verbracht. Gemeinsam besuchten wir noch Manuela Egermann, die sich in den letzten Jahren auch im Ost-Erzgebirge, bei Grüner Liga und LPV, engagiert hatte, und ihre chilenisch-deutsche Familie in Viña del Mar an der Pazifikküste. Dann wurde das zwischenzeitlich in Bussen mitgereiste Fahrrad entstaubt, geölt und wieder in Bewegung gesetzt für nochmal schätzungsweise rund 5.000 Kilometer nach Norden.

Die Region um Viña del Mar erschien Anfang Februar diesen Jahres auch in der internationalen Presse – was meistens ja gar nichts Gutes verheißt. Hier tobten zu diesem Zeitpunkt die schlimmsten Wald- und Buschbrände in der Geschichte Chiles. Diese fraßen sich bis in die Randviertel der Großstadt, zerstörten hier und in den vorgelagerten Orten über 10.000 Häuser – es gab über 130 Tote. Auch der Nationale Botanische Garten Chiles in Viña del Mar fiel den Flammen zum Opfer. Ende November hatte ich da noch einen entspannten Tag in einer grünen Oase zugebracht.

Der Nationale Botanische Garten von Chile in Viña del Mar – zwei Monate bevor er den Flammen zum Opfer fiel.

El-Niño-Witterung mit Klimawandel-Turbo hatte die schon seit längerem anhaltende Austrocknung Mittelchiles soweit verschärft, so dass nur wenige Funken genügten, um mehrere Brandherde zu entflammen. Wobei zur Wahrheit aber auch dazugehört: Chiles natürliche Vegetation muss seit Jahrzehnten nicht nur intensiver Landwirtschaft, sondern auch immer mehr Eukalyptus- und Kiefernplantagen weichen. Diese sind wirtschaftlich lukrativ für die wenigen Landbesitzer- (und politisch einflussreichen) Familien, aber eben auch extrem leicht entzündlich.

Offenbar nicht abgebrannt ist zum Glück der nahegelegene Nationalpark La Campana. Hier finden sich im Küstengebirge der nördliche Vorposten und letzte Rest des natürlichen Waldes in der Region. Sehr eindrucksvoll die Kontraste zwischen den wald-bewachsenen Südhängen und der Kakteen-Halbwüsten-Vegetation gegenüber (die Sonne steht ja mittags im Norden). Die Wanderung hier und die Rad-Überquerung des nahegelegenen Passes über das Küstengebirge – mit Sonnenaufgang hinter den 6000ern der Anden – gehörten zu den Höhepunkten der Reise.

Generell ist Chile ein angenehmes Reiseland, die Leute gleichermaßen freundlich wie zurückhaltend (insbesondere auch die Autofahrer gegenüber Radlern), alles scheinbar wohlorganisiert und diszipliniert. Sehr europäisch. Das betrifft auch das Müll-Thema. Außer in einer „unterprivilegierten“ Stadtrandsiedlung sind mir nirgends Abfallberge am Straßenrand aufgefallen.

(Rückblick auf die) Anden-Abfahrt von Puente del Inca – Andenpassstraße von Chile nach Argentinien

Ähnlich ist das Reisegefühl in Argentinien. Allerdings aktuell für uns zu einem Bruchteil der chilenischen Preise. Mit ihrer großzügigen Ausgabenpolitik (und wohl auch einem gehörigen Maß an Selbstbedienung) hat die linke peronistische Regierung das einstmals reiche Argentinien an den wirtschaftlichen Abgrund gebracht. Das äußert sich in einer Hyperinflation von über 200 %. Gut dran, wer über vergleichsweise „harte“ Devisen verfügt. Für die Mehrheit der Argentinier bedeutet das hingegen heftigen Wohlstandsverlust bis hin zu echter Armut. Weil es vermeintlich nicht schlimmer kommen könne, ging somit jetzt der rechte Populist und „Anarchokapitalist“ Javier Milei als Sieger aus den jüngsten Präsidentschaftswahlen hervor. Offenbar dämmerte den Argentiniern dann doch, dass dessen radikalen Ausgabenkürzungen doch (erstmal?) alles noch schlimmer machen kann für sie. Hamsterkäufe wie zu DDR-Zeiten waren die Folge. Und ähnlich leer sahen dann ab Januar auch die Supermärkte aus.

Und dennoch: die meisten Menschen, denen man begegnete, vermittelten einen relativ entspannten, lebensfrohen Eindruck. Man stelle sich in Deutschland eine vergleichbare wirtschaftliche Lage vor, mit über 200 (!) Prozent Inflation und gravierenden Versorgungsengpässen! Die Montagsdemos und Trekker-Blockaden wären kaum auszudenken!

Aus ökologischer Perspektive besonders kritisch ist, dass die Ausgaben-Streichungen des Klimawandel-Leugners Milei auch den gesamten Umweltbereich betreffen. Da hat Argentinien einerseits ohnehin ein beträchtliches Sündenregister, von pestizid-intensiver Pampa-Landwirtschaft bis zu rücksichtslosem Lithium- und sonstigem Bergbau. Andererseits wurde im südamerikanischen Vergleich eine Menge Anstrengungen zum Schutz der verblieben natürlichen Landschaften unternommen. Was von vielen Menschen erkennbar unterstützt wird: die Argentinier sind ein ausgesprochenes Outdoor-Volk.
Für den Radreisenden bedeutet dies unter anderem ein fantastisches Angebot an Zeltplätzen wie in keinem anderen Land Lateinamerikas. Außerdem auch hier in Argentinien kaum Müll am Straßenrand, wie auch die Städte und Dörfer: ausgesprochen sauber – v.a. im Rückblick nach dem Erleben der nördlichen Andenländer.

Rund 2000 km bin ich vom chilenisch-argentinischen Grenzübergang Puente del Inca bis zur bolivianischen Grenze La Quiaca / Villazón geradelt. Ziemlich anspruchsvolles Terrain zwischen den Anden und den östlich vorgelagerten Gebirgsketten (Sierras Pampeanas) mit langen, steilen Anstiegen! Aber landschaftlich gehört Nordwestargentinien ganz sicher zum Eindrucksvollsten, was der an eindrucksvollen Landschaften nicht grad arme Kontinent zu bieten hat. Besonders faszinierend – wenn auch, wie gesagt, mit einigen Radel-Anstrengungen verbunden – ist der schroffe Wechsel zwischen üppigen Yunga-Nebelwäldern auf der Ostseite der östlichsten Gebirgsketten zu Kakteen-Halbwüsten westlich davon.

Yunga-Nebelwald bei Jujuy in Nordwest-Argentinien

Das Gebiet liegt bereits nördlich genug, um von Osten heranwehende, atlantisch-feuchte Passatwinde abzufangen. Da diese aber nur in den unteren Atmosphärenschichten Richtung Westen wehen, gelangt auf diesem Weg kaum Wasser über die 1000 bis 2000 m hohen Bergketten hinweg. So gibt es am gleichen Tag einerseits dicht mit Epiphyten besetzte, knorrige Bäume im Nebel zu bewundern, und kurz darauf fast vegetationsfreie Felsschluchten, durch die geologische Vielfalt bunt gefärbt. Einfach grandios!

Irgendwann ist man dann oben auf der Puna-Hochebene zwischen den Anden-Kämmen. In Bolivien heißt das 3.500 bis 4000 m über dem Meeresspiegel liegende Hochland Altiplano, und setzt sich bis Peru hinein fort. Viele schwärmen ja von dieser weiten, offenen Landschaft – meine Wohlfühlzone war’s ganz und gar nicht. Seit spanischen Kolonialzeiten ist die natürliche (Gehölz-)Vegetation gründlich vernichtet. Und alles, was nachwachsen könnte, wird durch gnadenlose Überweidung weggefressen. Die indigene Bevölkerung Boliviens und Perus ist materiell sehr arm und für ihre Subsistenz offenbar auf Schaf-, Rinder- und (in geringerem Maß) Alpakahaltung angewiesen, die die ökologische Tragfähigkeit der empfindlichen Hochgebirgslandschaft bei weitem übersteigt. Was unter anderem heftige Erosion zur Folge hat. Man kann überdeutlich die Ursachen dafür erkennen, warum der Amazonas unten im brasilianischen Manaus so schlammig angewalzt kommt.

Pass in Peru

Hier und da wird durchaus auch aufgeforstet, in Peru mit erkennbar großen Anstrengungen vorangetrieben. Aber es handelt sich fast ausschließlich um australische Eukalypten und nordamerikanische Kiefern in Monokultur. Nur punktuell gibt es naturnähere Ansätze. Zum Beispiel auf einer 18 ha großen, Mollesnejta genannten Fläche nahe der bolivianischen Großstadt Cochabamba. Hier betreibt die 66-jährige Deutsche Noemi Stadler-Kaulich mit bewundernswertem Engagement ein „Institut für Agroforstwirtschaft“ (mollesnejta.org). Der Hauptteil der Arbeiten widmet sich der Wiederbelebung einer der typischen, durch jahrzehntelange Übernutzung devastierten semi-ariden Berghänge der Gegend. Dazu werden sowohl heimische Bäume als auch Nutzgehölze (z.B. Äpfel) gepflanzt, möglichst in vielfältiger, gegenseitig förderlicher Mischkultur. Verbunden ist dies mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Untersuchungen, wodurch Noemi für die schier unendlich viele Arbeit immer wieder Unterstützung durch deutsche Studenten bekommt. Ich selbst bin für eine knappe Woche als Wwoofer (Willing Workers on Organic Farms = freiwillige Helfer auf Biohöfen) dazugekommen. War eine interessante, schöne, aufbauende Zeit in einer kleinen deutschen Studentenblase! Nur die Arbeit entsprach nicht ganz den Erwartungen: statt Bäume zu pflanzen bekam ich, als studierter Förster, die heilige Motorsäge ausgehändigt und durfte vier Tage lang verkohlte Baumleichen um-/kleinsägen. Nach einem Brand 2017 war letzten August erneut ein in der Nachbarschaft außer Kontrolle geratenes Feuer über Mollesnejta gefegt und hatte innerhalb weniger Stunden die mühevolle Arbeit von Jahren zunichte gemacht. Wo nehmen Menschen wie Noemi nur die Energie her, trotzdem wieder von Neuem anzufangen?

Von Cochabamba wieder wegzukommen war nicht so einfach. Anhänger des früheren Präsidenten Evo Morales blockierten alle Zufahrtsstraßen. Der langjährige linke Machthaber Morales war 2019 wegen Machtmissbrauchs verurteilt worden.  Für die nachfolgende Wahl hatte er dann seinen ehemaligen Wirtschaftsminister als Präsidenten installiert. So wie weiland Putin seine Getreuen Medwedjew als Platzhalter bis zur nächsten Wahl. Dumm nur, dass der hiesige Medwedjew, der Luis Acre heißt, offenbar Gefallen an seinem Präsidenten-Job gefunden hat. Deshalb zerlegt sich die eigentlich alles dominierende Regierungspartei Movimiento al Socialismo grad selbst. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, hatte Morales jetzt seine in der Coca-Region Cochabambas konzentrierten Anhänger zu den Straßenblockaden aufgerufen (und bezahlt?), die wochenlang die wichtigste Verkehrsader des Landes lahmzulegen begannen. Am Tag 2 der Aktion war die Schlange der aufgestauten Laster schon auf 11 km angewachsen. Vorbei kam man faktisch nur zu Fuß oder gegen erhebliche Wegelagerer-Gebühren per Motorradtaxi. Nur der per Fahrrad bergauf keuchende Gringo passte so gar nicht ins Muster. Er erhielt durchweg freie Fahrt, aufmunternde Zurufe und stellenweise sogar Beifall.

Das war jetzt chronologisch bereits etwas vorgegriffen. Erwähnt werden sollen noch die Stationen Uyuni und Potosi. Ersteres ist ein einerseits touristisches, andererseits aber ziemlich trostloses Nest auf der Hochebene in der Nähe des größten Salzsees der Welt. Ist schon was Besonderes; ich empfand die schier endlose Fläche aber weit weniger beeindruckend als erwartet. Lag sicher auch an der Regenzeit mit bedecktem Himmel oben und einer wässrigen Salz-Matsch-Schicht unten, die nur ganz hartgesottene Cycloholiker mit ihren Rädern befahren.

Uyuni ist übrigens auch die weltgrößte Lithiumlagerstätte. Eigentlich. Die generell ziemlich öko-ignorante Morales-Regierung hatte hier bereits vor längerer Zeit mit einem Abbau-Unternehmen begonnen, allen Umwelt-Einwänden zum Trotz. So richtig voran soll es aber auch hier nicht gehen, sowohl wegen technologischer Schwierigkeiten als auch wegen stark schwankender Lithium-Weltmarktpreise.

Anders scheint es um den Bergbau von Potosi bestellt zu sein.  Bis auf fast 5000 m erhebt sich über der höchstgelegenen Großstadt der Welt der Cerro Rico, der „Reiche Berg“ – die ergiebigste bekannte Silberlagerstätte der Welt. Was die spanischen Kolonialherren hier (unter kaum vorstellbaren, unmenschlichen Bedingungen!) über Jahrhunderte ausbeuten ließen, hatte nebenbei den Ruin der meisten Silberzechen im Erzgebirge zur Folge.
Auch heute noch – oder wieder – lohnt sich der Bergbau, wovon viele neue Wunden am malträtierten Berg einerseits und die intensive Bautätigkeit im Bergarbeiter-Viertel von Potosi zeugen. Gesund ist wahrscheinlich die Arbeit unter Tage nach wie vor nicht. Kleine, etwas skurrile Episode am Rande: Ich steige zu einem 4.300 m hohen Vorberg des Cerro Rico auf, wo eine große Christusstatue steht (obligatorische Ausstattung vieler südamerikanischer Städte), nebst einem Dutzend Mobilfunk-Sendemasten und einer Art Aussichtsplateau. Der Betonchristus samt einer Kapelle ist von einem Zaun samt verschlossenem Tor umgeben. Als einige Hunde meine Anwesenheit verkünden, kommt ein blinder, einarmiger Mann aus der Kapelle und schließt das Tor auf. Ein alter Mann, denke ich zunächst, doch bei genauerem Hinschauen vermutlich nicht älter als 40. Er bittet zunächst um Wasser. Und erzählt, dass die Verletzungen bei einer Explosion unter Tage passiert seien. Dann fingert er einen Lederbeutel aus seiner zerlumpten Kleidung und holt ein paar Mineralien heraus, die er mir verkaufen will. Für 5 Bolivianos (80 cent – mehr Kleingeld habe ich nicht dabei, und Scheine wird ein blinder Invalide nicht wechseln können) bekomme ich ein Stück Silbererz. Keine Ahnung, ob das echt ist – ein interessantes Souvenir vom Cerro Rico allemal.

Wirklich schockierend sind die auf dem Altiplano herumliegenden – und im meist starken Wind herumfliegenden – Müllmassen. Selbst weitab der nächsten Siedlungen flattern in den Krüppelbüschen Plastetüten(fragmente). Neben dem ausgesprochen sorglosen Umfang der Leute mit Plastik- und sonstigem Kram sowie nicht funktionierender Entsorgungsinfrastruktur trägt das Höhenklima zur krassen Müllkatastrophe bei. Das meiste Zeug zersetzt sich hier faktisch überhaupt nicht. Und wegen der extremen Überweidung kann selbst jetzt in der Regenzeit kein Gras drüber wachsen. Nee, schön ist der Altiplano wahrlich nicht!

vermüllter Altiplano (Hochebene in Südost-Peru und West-Bolivien) in Bolivien bei El-Alto

Die ökologischen wie sozialen Probleme kulminieren in El Alto – diese mittlerweile Millionenstadt auf 4000 m ist wirklich „die Höhe“! 500 m tiefer liegt in einem Talkessel die faktische Hauptstadt Boliviens, La Paz. (Die offizielle Hauptstadt heißt Sucre, liegt paarhundert Kilometer südöstlich, hat ein sehr schönes koloniales Welterbe-Stadtzentrum, ist aber nicht Sitz von Regierung und Parlament – ein weltweit wohl einzigartiges Arrangement.) Weil der Talkessel von La Paz so eng ist, dass da beim besten Willen nicht mehr als 750.000 Einwohner reinpassen, siedeln sich alle Binnenmigranten oberhalb der Hangkante an. Das Ergebnis ist ein unbeschreibliches urbanes Chaos namens El Alto – eine der am schnellsten wachsenden und ärmsten Städte Südamerikas. Teil des Chaos ist auch, dass die Abwässer des Millionen-Molochs großteils ungeklärt in einen Fluss geleitet werden … der im Titicacasee mündet. Und das sieht bzw. riecht man, zumindest an dessem südlichen Teil, dem Kleinen Titicaca. Der mit 3800 m höchstgelegene schiffbare See der Welt gehört zwar nach wie vor zu den Top-Touristenattraktionen und sieht von den umliegenden Bergen aus tatsächlich eindrucksvoll tiefblau aus. Aber dessen ökologischer Kollaps mag nicht mehr fern sein. Neben all den Abwässern (unter anderem auch reichlich Quecksilber aus Goldschürfungen an seinen Zuflüssen) ist der sinkende Wasserspiegel Grund für zunehmende Besorgnis. Eigentlich gelten ja zumindest in Peru dank Gletscherschmelze die Wasserversorgung und die Landwirtschaft vorübergehend zu den Gewinnern des Klimawandels. Aber im Umfeld des Titicacasees hat das Abschmelzen der meisten Gletscher wohl schon den Zenit überschritten. Auf meiner Radeltour komme ich an mehreren 5000ern vorbei, bei denen es unter Googlemäps noch Gletscherfelder zu bewundern gibt, die inzwischen weitgehend oder komplett verschwunden sind.

In der 200.000-Einwohner-Stadt Juliaca, nordwestlich des Titicacasees, passiert etwas, was dem persönlichen GAU nahekommt: da lasse ich mir nämlich-dämlich mein Tagebuch klauen, mitsamt Rucksack. 200 Tage, jeden Tag rund eine Stunde Aufzeichnungen … weg! Und das mit einem altbekannten Trick, vor dem jeder Reiseführer warnt: ich sitze auf einer Bank vorm Einkaufszentrum mit dem Händie in den Händen wegen einer kurz bevorstehenden Videoschalte. Ringsum eigentlich jede Menge Sicherheitspersonal. Plötzlich bekleckert mich jemand von rechts hinten mit Eiscreme, entschuldigt sich wortreich und beginnt, das Malheur mit einer Serviette wegzuwischen. Ich denke, er hat’s auf das Händie abgesehen, kralle es fest und glaube leicht triumphierend, die Attacke abgewehrt zu haben. Doch zu früh triumphiert: als ich mich umdrehe, ist der Tagesrucksack weg, mitsamt des Mannes, der schon eine ganze Weile am anderen Ende der Bank gesessen hatte. Nichts wirklich materiell wertvolles drin, nur das Tagebuch ist unersetzlich. So blöd! Nun werde ich wohl die ganze Reise nochmal machen müssen …. (Für den geneigten Blätt’l-Leser hat das den Vorteil, dass dieser Artikel nicht noch länger wird.) Solche Erlebnisse werfen freilich auch Schatten auf die Reisefreude und die Offenheit gegenüber den Bewohnern des bereisten Landes. Insbesondere in den schrecklich wuseligen Stadtzentren beginnt man, misstrauisch um sich zu schauen.

Bloß gut, dass es Orte wie die Casas de Ciclistas gibt! Solche Radlerherbergen gibt es in etlichen lateinamerikanischen Städten; über deren Existenz erfährt man meistens nur von anderen Rad-Reisenden, die man dann auch in den CdC trifft. Zum Beispiel bei Giovanni in Juliaca. Die Finanzierung erfolgt über freiwillige Spenden der Nutzer an die Betreiber. Richtig tolle Orte zum Auftanken!
Eine andere fantastische „Erfindung“ für Fernradler heißt Warmshowers („warme Duschen“) – ein Gastgeber-Gäste-Netzwerk von Radfahrern für Radfahrer. Wunderbare Bekanntschaften, die man darüber knüpfen kann!

In Peru ist erstmal Sackgasse für die Radeltour. Nach einem heftigem Aufflammen der Drogenbanden-Gewalt im nördlichen Nachbarland Ecuador wurde dort der Ausnahmezustand ausgerufen. Um über Land einreisen zu können, muss man jetzt ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen, übersetzt und von der Botschaft beglaubigt. Sicherlich ließe sich diese Hürde auch an der Grenze mit entsprechender Bestechung überwinden, aber das ist nicht mein Ding. So bleibt am Ende doch nur ein Flug über Ecuador hinweg, sehr schade.

Das Ziel heißt Kolumbien – dem Vernehmen nach DIE Radfahrernation Südamerikas. Rennradler wie Nairo Quintana und Egan Bernal sorgen schon seit längerem dafür, dass Kolumbianer zu den Favoriten bei Tour de France und anderen internationalen Radrennen gehören. Im Land selbst sollen ihre Erfolge einen ungekannten Fahrradboom mit befördert haben.

In Bogota manifestiert sich dieser Fahrradboom auf besonders eindrucksvolle Weise. Ein mittlerweile mehrere hundert Kilometer umfassendes Netz richtig guter Radwege durchzieht die Zehn-Millionen-Metropole. Unzählige Radfahrer nutzen dieses. Und wenn man doch mal auf die Straße ausweichen muss, nehmen die meisten Autofahrer Rücksicht wie nirgends sonst in lateinamerikanischen Städten. Eine schier unglaubliche Radfahrer-Welt!

Radfahrer bei Bogota

Ihren Höhepunkt findet diese Radlerwelt jeden Sonntag-Vormittag: Cyclovia! So heißt ein in diesem Umfang wohl weltweit einzigartiges Phänomen. Seit mehreren Jahrzehnten werden Woche für Woche sonntags 130 km Straßen Bogotas (einschließlich mehrerer Spuren der Hauptverkehrsadern) für den Autoverkehr gesperrt – und für Radfahrer, Jogger, Skater oder auch nur Spaziergänger geöffnet. Die Bewohner Bogotas nutzen das Angebot in kaum vorstellbarer Zahl. Jeden Sonntag sollen sich zwei bis drei Millionen Menschen an diesem gigantischen sonntäglichen Volksfest beteiligen – 20 bis 30 % der Einwohner! Und zumindest im Stadtzentrum hat so ein Ciclovia-Sonntag tatsächlich Volksfestcharakter. Von meiner kleinen Unterkunft im Flughafenviertel lasse ich mich über die sonst dicht an dicht mit Autos befahrene Straße, von deren sechs Spuren heute zwei den Radlern vorbehalten sind, mit dem Strom ins 15 km entfernte historische Viertel La Candelaria treiben. Dort gibt es heute u.a. Straßenecken-Konzerte, Tanzdarbietung, eine große Mitmach-Aerobik-Aktion, außerdem natürlich zahlreiche Händler von Flohmarkt-Krimskrams über Handwerkskunst bis zu Fahrradersatzteilen. Dabei alles völlig entspannt, gute Laune pur. Ich bin ja wahrlich kein Freund von Großstädten (also alles, was größer ist als Bärenstein …), aber Bogota an einem Sonntagvormittag – das ist schon was ganz Besonderes! Und auch sonst mit Sicherheit die fahrrad-verrückteste Metropole weltweit.

Leider lässt diese allgemeine Radfahr-Begeisterung außerhalb Bogotas sehr bald nach. Spätestens nach 200, 300 km gen Norden ist man wieder der einzige Drahtesel-Ritter auf den Fernstraßen. Was auch daran liegt, dass diese meist eng, kurvenreich und von ständigem kräftezehrenden Auf und Ab in diesem extrem gebirgigen Land geprägt sind. Darauf sind viele, viele Lkws der Marke „Amerikanischer Brüll-Laster“ unterwegs. Eisenbahn gibt es auch in Kolumbien faktisch nicht mehr, aller Gütertransport des aufstrebenden Schwellenlandes geht über das hoffnungslos überlastete Straßennetz. Immerhin: die allermeisten fahren sehr diszipliniert und rücksichtsvoll.

Die Alternativen für den Radfahrer erweisen sich in der Regel als nicht asphaltierte und noch viel steilere Feldwege. Über diese kommt man dann allerdings auch in richtig traumhafte Landschaften. So zum Beispiel zum Bergsee Guatavita, wo die El-Dorado-Legende ihren Ausgangspunkt gehabt haben soll. Oder zu der spektakulären Karsthöhle Ventanas de Tisquizoque. Da hat sich ein Fluss durch den Felsen gebohrt, um dann aus einer große Höhle als drei-etagiger Wasserfall in die Tiefe zu stürzen. Auch wenn wegen langanhaltender Trockenheit (auch hier wieder mal!) derzeit nur wenig Wasser die hohe Felswand hinunter plätscherte, mitsamt der üppigen Tropen-Vegetation einschließlich Kolibris und Tukane – ein Naturerlebnis der Sonderklasse! Das man weitestgehend für sich allein hat. Selbst an einem Sonntagvormittag bin ich für mehr als eine halbe Stunde der Einzige in der großen Höhle, durch die der Bach bis zum Absturz fließt. Als Radler muss man sich die Anfahrt hart erarbeiten, und automobil haben wahrscheinlich nur Allradfahrzeuge eine Chance. Allerdings wird an der „Straße“ derzeit gebaut – möglicherweise wird in wenigen Jahren daraus eine weitere überlaufene Touristenattraktion.

Was ich zu Beginn der Radreise zwar gehofft, aber selbst kaum für erreichbar gehalten hatte, rückte nun in greifbare Nähe: die kolumbianische Karibikküste. Karibik! Was für Assoziationen dieses Ziel doch hervorruft! Traumstrände, Baden im klaren Meerwasser, … Doch die Etappen bis dahin ließen schon Bedenken aufkommen, ob die Realität dem Klischee gerecht werden würde. Immer auffälliger, ekliger wurden die Müllhalden am Straßenrand. Besonders heftig die Plastikflut bei der Durchquerung der weiten Bananenplantagen des Tieflands: Jede Bananen-Traube wird an der Staude einzeln mit blauer Plastikfolie eingewickelt, vermutlich um die Bananen ohne Flecken reifen zu lassen. Nach der Ernte landet diese Plastikfolie auf Haufen, die inzwischen zu etliche Meter hohen Bergen angewachsen sind. In diese pustet beständig kräftiger Wind …

Beim Abfackeln der Straßenränder in Kolumbien samt Müll geraten die Flammen oft außer Kontrolle.

Ja, und was dann an der Karibikküste zu erleben war, übertraf die schlimmsten Befürchtungen! Nach Guyana, Bolivien und Peru glaubte ich, schon so einiges gewöhnt zu sein. Aber schlimmer geht immer. Der apokalyptische Müll-Abgrund heißt Barranquilla. Industrie- und Hafenstadt mit über einer Million Menschen – und offensichtlich ohne jegliche funktionierende Müllentsorgung. Alles akkumuliert sich bergeweise auf den Straßen, landet in Kanälen und von dort in der Karibik.

(Müll-)Kanal in der Großstadt Barranquilla an der Karibikküste

Entsprechend sehen viele Strände aus, denen andererseits erkennbar auch der Meeresspiegel-Anstieg zuzusetzen scheint. Umso wichtiger die ausgedehnten Mangroven-Säume. Aber auch zwischen deren Stelzwurzeln: überall Plastikmüll. Und was früher mal beschauliche Fischerdörfer gewesen sein mögen, sind heute slum-artige Barackenviertel am Rand der Großstädte, die im Müll versinken.

Das finale Ziel der Radtour sollte Cartagena werden. Einstmals wichtigste Hafenstadt des spanischen Kolonialreichs, von wo einerseits das geplünderte Gold und Silber verschifft wurde, wo andererseits unzählige afrikanische Sklaven zur brutalen Zwangsarbeit für diesen Wohlstand angelandet wurden. Nicht nur das spanische Mutterland wurde damit reich, sondern auch Cartagena selbst, was man vielen Gebäuden im heute als Welterbe ausgewiesenen Zentrum ansieht. Die grausame Geschichte hinter den Prachtbauten muss man ausblenden, um sich dran erfreuen zu können (und sich nicht übergeben zu müssen). Inzwischen ist diese Altstadt von Cartagena ein Tourismusmagnet und gehört zum Programm vieler Karibik-Kreuzfahrten. Auch jetzt ist grad so ein Riesenpott angekommen und schüttet seine tausendköpfige Fracht in die engen kolonialen Gassen. Immerhin scheinen die Kreuzfahrtler besser genährt zu sein als einstmals die halbtoten Sklaven …

Was die meisten Besucher des gepflegten historischen Cartagena vermutlich nicht kennenlernen, ist das urbane Ungetüm, dass sich inzwischen in dessen Umfeld ausbreitet und auch bereits rund eine Million Einwohner hat. Verstopfte Straßen und Gehwege (wo überhaupt vorhanden), Verkehrs-Hektik mit permanent und penetrant hupenden Massen von Motorradtaxis, kreischend übersteuerten Lautsprecherboxen in vielen Läden. Radfahrer und Radwege? Fehlanzeige. Dafür auch hier wieder: Müll, Müll, Müll. Die Welterbe-Altstadt ist, zugegeben, halbwegs sauber. Da wundert man sich allenfalls über die flatternden Objekte am Himmel, die sich bei genauerem Hinsehen nicht als Vögel, sondern als vom Winde verwehte Plastiktüten erweisen.

Zur Quintessenz einer achtmonatigen Radrundreise durch Südamerika gehört, die ökologischen Konsequenzen heutiger Wirtschafts- und Lebensweisen bis zum Ende zu denken. Wir importieren in großen Mengen Soja aus Brasilien, Argentinien und Paraguay, Steinkohle kommt aus Kolumbien, Lithium und Kupfer aus Chile – die Liste ließe sich lang fortsetzen. Gleichzeitig versuchen Deutschland und die EU verstärkt, die Aufschwung-Länder Südamerikas auch als Absatzmärkte zu erschließen. Alles ist mit viel, viel Energie, Transportaufwand und letztlich auch Müll verbunden. – Wo soll das noch hinführen?

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