Wenn auch seit zwanzig Jahren nur noch zahlende Karteileiche im Kreisverband von Bündnis 90/Die Grünen, durfte auch ich über den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung mit abstimmen. Und gehöre nun zu den 8.275 Neinsagern.
Klar, das Land braucht dringend einen neuen Aufbruch. Aus politischer Stabilität in Deutschland ist längst unerträgliche Verkrustung geworden. Die großen Krisen der Gegenwart und Zukunft verlangen nach neuen Kräften, neuen Ideen, neuen Strategien. So sediert wie bisher konnte es nicht weitergehen.
Aber geht der Aufbruch in die richtige Richtung? Große Zweifel.
Acht Milliarden Menschen beherrschen die Ökosysteme dieser Welt. Die meisten (Menschen wie Ökosysteme) ächzen an der Grenze der Belastungsfähigkeit. Klimawandel, Bodenvernichtung, Wassermangel, Artensterben. Wir Deutsche machen gerade mal ein Prozent der acht Milliarden aus. Aber wenn alle anderen ebenso hohe Ansprüche an materiellen Wohlstand hätten wie wir, dann wäre längst Schluss auf dem Planeten Erde – für uns und viele unserer Mitbewohner. Wir balancieren inzwischen auf einem sehr schmalen Grat. Um die Grenzen der Belastungsfähigkeit der Ökosysteme und der Menschen am unteren Ende der sozialen Skala (die sich ja ohnehin schon in großer Zahl in Richtung unserer Wohlstandsfestung aufmachen) nicht zu überreizen, bedarf es nicht nur eines neuen Aufbruchs, sondern auch eines deutlichen Richtungswechsels: „Mehr (materielle) Bescheidenheit wagen!“
Der Koalitionsvertrag atmet einen ganz anderen Geist. „Digitalisierung beschleunigen“, „Deutschland zum Leitmarkt der Elektromobilität machen“ (15 Millionen neue E-Autos inklusive), „synthetische Kraftstoffe für klimaneutrales Fliegen“, „leistungsfähige Wasserstoffwirtschaft möglichst schnell vorantreiben“ … all das erfordert viel, viel Energie. Weil wir aber – und das ist richtig so!! – aus Atom und Kohle aussteigen wollen, soll der „Ausbau erneuerbarer Energien drastisch beschleunigt“ werden. Dazu gehört der „beschleunigte Netzausbau“ und die „Erleichterung des heimischen Rohstoffabbaus“. (Allein die Worte beschleunigen und Beschleunigung kommen 56 mal im Vertragstext vor!).
Der „massive Ausbau der erneuerbaren Energien“ verschlingt eben auch Ressourcen. Der Bedarf an Rohstoffen, deren Gewinnung schon bislang mit fürchterlichen Schäden für Natur und Menschen in fernen Ländern einhergeht, wird in ungeahnte Höhen klettern: Kobalt aus kongolesischer Kinderarbeit, Lithiumminen auf Kosten von südamerikanischen Indigenen und gefährdeten Anden-Biotopen, Seltene Erden aus China zulasten der innermongolischen Steppe und ihrer Bewohner … die Liste ist lang. (Eine sehr eindrucksvolle Recherche hatte der SPIEGEL in seiner Ausgabe 44/30.10.21 unter der passenden Überschrift „Raubbau im Namen der Umwelt“ gebracht. Leider ist dieser Artikel im Netz kostenpflichtig).
Und natürlich wird auch an Deutschland dieser „massive Ausbau der erneuerbaren Energien“ nicht spurlos vorbeigehen. Nach dem Ausbaustillstand der letzten Jahre wird sich nun wohl doch die Zahl der Windkraftanlagen vervielfachen und gigantische Höhen erreichen, blinkende Nachthimmel und industrialisierte Landschaftsästhetik inklusive. Fast 8.000 Kilometer Stromnetzausbau (entspricht Luftlinie bis Wladiwostok oder Florida) sind innerhalb Deutschlands schon bisher geplant – ob’s reichen wird? Lokaler Widerstand soll mit „beschleunigten Genehmigungsverfahren“ gebrochen werden.
Nicht nur in fernen Ländern, aus denen wir – ohne viel zu fragen – den Löwenanteil unserer Rohstoffe importieren, wird all das die Biologische Vielfalt noch weiter unter Druck setzen. Die Roten Listen werden auch deshalb immer länger.
Ja sicher, ein Koalitionsvertrag ist immer ein Kompromiss zwischen den Zielen unterschiedlicher Parteien, die irgendwie zusammen regieren wollen/sollen. So einige Ressourcenfresser im Vertrag sind vermutlich (hoffentlich!) nicht auf grünem Mist gewachsen: „Lkw-Stellflächen an und um Autobahnen ausbauen“ (in der ursprünglichen A17-Planung war sowas bei Göppersdorf drin), „Hinterland-Anbindungen für Schiffsgüterverkehr stärken“ (Elbe-Ausbau?), und vor allem: „Bau- und Investitionsoffensive für zusätzlichen Wohnraum“, einschließlich 400.000 neue Wohnungen pro Jahr sowie Erhöhung der „Mittel für Eigenheimförderung“. Die durchschnittliche Wohnfläche in Deutschland beträgt heute 47,7 m2 (2011: 46,1 m2) – pro Person! Von so viel komfortablem Platz können anderswo auf dieser Welt ganze Großfamilien nur träumen. Nur ist dieser Wohnraum leider sehr ungleich verteilt. Aber statt da steuernd einzugreifen, fällt auch der neuen Regierung nur ein: mehr zubauen. Flächenversieglung, Biotopzerstörung und abermals vor allem: Ressourcenverbrauch. Sandraubbau für die Bauwirtschaft steht inzwischen sehr weit oben auf der Liste der globalen Ökosystemzerstörungen, und dies vor allem an den ohnehin durch Klimawandel bedrohten Küsten der ärmsten Staaten dieser Welt.
Nein, bei aller Freude über die Aufbruchstimmung und etliche doch durchaus auch positive Ansätze im Koalitionsvertrag: die Grundtendenz geht nach wie vor in die falsche Richtung. Probleme, die aus viel zu hohem Ressourcenverbrauch resultieren, wird man nicht dadurch lösen, einfach auf den Verbrauch anderer Ressourcen umzuschalten. Da sind die Kapazitäten des Ökosystems Erde ebenfalls beschränkt, die Wohlstandsansprüche der 80 Millionen Deutschen zum Standard für 8.000 Millionen Erdenbürger zu machen. Für einen nachhaltigen Umgang mit der Erde und ihrer Natur bedarf es stattdessen drastischer Reduzierung des Ressourcenverbrauchs – mehr Bescheidenheit, weniger Wohlstand, hier und jetzt.
Nur würde ziemlich sicher kein Politiker gewählt werden, der die Weichen in diese Richtung stellen wöllte. Vielleicht ist das, was im Koalitionsvertrag steht, doch die beste aller denkbar schlechten Ausrichtungen für den politischen Neustart. Es gab ja zum Glück 61.174 grüne Jasager.