Die buntblumigen, falterreichen Berg- und Hügellandswiesen, die zum Leitbild des Naturschutzes im Ost-Erzgebirge gehören, entstanden wahrscheinlich fast alle erst im 19. Jahrhundert. Zur damaligen Wiesenkultur gehörte auch die Kalkung des Grünlandes.
Diese Kalkungspraxis endete weitgehend Mitte des 20. Jahrhunderts. Stattdessen belasteten immer mehr schwefeldioxidreiche Abgase der Braunkohlenverbrennung die Landschaft – die Böden vor allem im oberen Ost-Erzgebirge versauerten in dramatischem Ausmaß. Heute stellen diese Schwefeldioxid-Immisionen kaum noch ein Problem dar. Doch die Säurebelastungen bleiben bestehen (unter anderem wegen der Stickoxide aus Kraftfahrzeugen.)
Niedrige Boden-pH-Werte führen zu chemischen und physikalischen Prozessen, die für das Pflanzenleben sehr ungünstige Bedingungen verursachen. Wichtige Nährstoffe sind dann so festgelegt, dass sie nicht mehr pflanzenverfügbar sind, während gleichzeitig toxische Elemente wie Aluminium und Schwermetalle freigesetzt werden. Die Bodenstruktur neigt im sauren Bereich zu Verdichtung, mithin verringerter Wasserspeicherung und Sauerstoffverfügbarkeit. Die Bodenlebewesen (Edaphon) werden stark beeinträchtigt.
Viele Zielarten des Naturschutz-Grünlandes, die einst landschaftstypisch waren, heute aber gefährdet sind, stellen höhere Ansprüche an die Basenversorgung der Böden. Dazu gehören unter anderem Trollblumen, Feuer-Lilien, Stattliches Knabenkraut, Groß Sterndolde. Aber selbst für vermeintliche Säurezeiger, wie Arnika, wird es offensichtlich in sehr niedrigen pH-Wert-Bereichen schwierig.
Insofern liegt es nahe, Naturschutzwiesen wieder zu kalken – so wie es früher üblich war.
Doch im Unterschied zu früher liegt heute Stickstoff in historisch extremem Übermaß in der Landschaft. Neben verschiedenen anderen negativen Auswirkungen auf die Ökosysteme führt diese Eutrophierung zur einseitigen Bevorzugung von wenigen „Konkurrenzstrategen“ unter den Pflanzen, die diesen Stickstoff besonders schnell in Biomasse umsetzen können – und dann die konkurrenzschwächeren „Hungerkünstler“ verdrängen. Die daraus resultierende Artenverarmung stellt heute eine der größten Gefahren für die Biologische Vielfalt dar.
pH-Wert-Erhöhung durch Kalkung kann dazu führen, dass die in die Böden eingetragenen Stickstoffverbindungen besonders rasch und umfassend mobilisiert werden. D.h., die Konkurrenzstrategen (z.B. Brennnessel, Brombeeren, verschiedene hochwüchsige Obergräser) würden noch mehr gefördert, noch mehr zu lasten der weniger konkurrenzfähigen Zielarten des Naturschutzes.
Insofern könnte Kalken vielleicht doch nicht so gut sein für Naturschutzwiesen?
Kalkungsstudie im Auftrag der Naturschutzstation Osterzgebirge
Im Rahmen des Projekts „Osterzgebirge entdecken, Flächen pflegen, Gutes schmecken“ hat die Naturschutzstation 2021 eine Studie in Auftrag gegeben, mit der die Chancen und Risiken der Kalkung von naturschutzbedeutsamem Grünland im Gebiet des Oberen Müglitztales untersucht werden sollte.
Kalkungsstudie als pdf (8,3 MB)
Die Studie beruhte auf drei Recherchepfaden:
– Literaturauswertung. Was ist bekannt über die Wirkung von Kalk in (Grünland-)Ökosystemen? Dazu gibt es einerseits sehr umfangreiches landwirtschaftliches Wissen, andererseits auch viele Erfahrungen im Zusammenhang mit forstlichen Waldkalkungen. Hinsichtlich der Reaktion von naturschutzbedeutsamen Grünlandtypen und gefährdeter Arten ist der Wissenstand jedoch sehr lückenhaft.
– historische Analayse. Aufbauend auf einem Sondergutachten von Dr. Christoph Bieberstein („Die Ausbreitung der Kalkdüngung und ihre Einflüsse auf die sächsische Landwirtschaft„) konnte gezeigt werden, dass Kalkung auch im Gebiet des Ost-Erzgebirges sehr wahrscheinlich zur normalen Wiesenbewirtschaftung gehörte. Genauere Angaben zu Kalkmengen, Ausbringungsintervallen und konkreten Lokalitäten indes fehlen.
– Analyse von Boden-pH-Daten. Gerade im Oberen Müglitztal liegen nicht wenige Untersuchungen vor, die auch für naturschutzbedeutsames Grünland pH-Werte erfasst hatten. Zu nennen sind unter anderem die Landschaftspflegeversuche des Versuchsguts Börnchen, Vegetationsanalysen durch Apitzsch und Hachmöller am Geisingberg, Untersuchungen auf Pflegeflächen der Grünen Liga Osterzgebirge durch Schmiede und Lochschmidt. Außerdem konnten zahlreiche Informationen aus der Bodendatenbank des LfULG herangezogen werden. Und es erfolgten noch 21 zusätzliche Bodenaufnahmen innerhalb der Studie. Die analysierten Erhebungen erwiesen sich allerdings als viel zu heterogen hinsichtlich der Erfassungsmethodiken, als das sich daraus hätten solide Erkenntnisse ableiten lassen.
Empfehlungen für die Kalkungspraxis im Wiesen-Naturschutz:
Bei der Auswertung aller Daten und Informationen zeigte sich, dass im Rahmen einer solchen, vom Umfang her sehr begrenzten, Studie kaum belastbare, hinreichend konkrete Handlungsanleitungen für die Kalkung von Naturschutz-Grünland zu gewinnen waren. Somit beschränkte sich das Fazit auf folgende Empfehlungen für die Kalkungspraxis:
A) Vielfalt fördern – auch der Bodenbedingungen!
B) Kalkung an Zielarten orientieren!
C) Keine „Radikaleingriffe“: wenig, aber stetig!
D) Thomasphosphat, Kalziumkarbonat oder Kalkmergel
E) Höherer Biotoppflegeaufwand erforderlich zur Stickstoffabschöpfung!
Besonders letzterer Punkt muss unbedingt beachtet werden bei der Kostenkalkulation: nach der Kalkung von Naturschutzwiesen wird in der Regel für mehrere Jahre eine zusätzliche Mahd im Herbst erforderlich, um den durch die Stickstoffmobilisierung forcierten Grünmasseaufwuchs abzuschöpfen!
Wie nun weiter – Kalken ja oder nein?
Im November 2022 lud die Naturschutzstation Osterzgebirge Naturschutzpraktiker, -behörden und -experten zu einem Fachgespräch ein, wie mit den Erkenntnissen aus der Studie sowie Erfahrungen anderer Akteure (insbesondere vom Grünland-Verbundprojekt Oelsen) weiter verfahren werden soll. Die Teilnehmer kamen überein, die Möglichkeiten für ein umfassenderes Wiesenkalkungsprojekt im Ost-Erzgebirge auszuloten – praxisnah, aber mit systematischer wissenschaftlicher Begleitung. Angesichts der teilweise sehr niedrigen Boden-pH-Werte insbesondere bei Wiesen mit heute gefährdeten Pflanzenarten und -gemeinschaften besteht offenkundig hoher praktischer Handlungsbedarf – bei gleichzeitig jedoch großen Wissenslücken hinsichtlich der durch Kalkung in Gang gesetzten ökologischen Prozesse.