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Hněvín/Brüxer Schlossberg

Most/Brüx ist alt. Bereits im 9. Jahrhundert siedelten hier Menschen, wie Archäologen nachweisen konnten. Im 12. Jahrhundert ließ das hiesige Adelsgeschlecht der Hrabischitze - von denen auch wesentliche Kolonisierungsinitiativen im Ost-Erzgebirge ausgingen - auf dem Berg Hnevín eine Burg aus Stein errichten. Zu ihren Füßen entwickelte sich an der Brücke über die Bílina/Biela ("most" = tsch. "Brücke") eine städtische Siedlung, die von Böhmenkönig Wenzel/Vaclav I. zur Königsstadt erhoben wurde. An den Berghängen wuchs Wein, so wie teilweise heute noch.

Most ist neu. In den 1960er Jahren schätzten Geologen die unter der alten Stadt liegenden Kohlevorräte auf 100 Millionen Tonnen. Die sozialistischen Wirtschaftslenker kannten keine Skrupel: fast die gesamte geschichtsträchtige Bausubstanz wurde abgerissen und stattdessen ein moderner Plattenbau-Moloch aus dem Boden gestampft. 30.000 Menschen mussten umziehen, heute wohnen in der Bezirksstadt 75.000 Einwohner. Im Norden prägen Tagebaue und teilweise rekultivierte Kippen die Landschaft.


Kippenlandschaft in Nordböhmen

Schon vor der Gier nach Kohle und Energie wandelte sich die Landschaft Nordböhmens. Vor 1000 Jahren bedeckten große Sümpfe die Ebene, die dann mühsam entwässert und landwirtschaftlich nutzbar gemacht wurden. Das Wasser verblieb in vielen Teichen und einigen Seen. Der größte davon hieß Kommerner See und erstreckte sich zwischen Brüx und Erzgebirge. Immer mehr Agrarfläche rangen die Menschen ihm ab, und 1830 wurde der Kommerner See völlig entwässert. An seine Stelle traten die "Seewiesen". Doch unter diesen wiederum lagerte Kohle, die seit den 1960er Jahren im Großtagebau gewonnen wurde und wird.

Wo der Erde die Kohle entrissen wurde, bleiben neben schier endlosen Kippen auch Löcher übrig, die sich mit Wasser füllen lassen. Nordwestlich der Stadt Most befindet sich heute eine ca. 40 Hektar großer See namens Matylda.

Vom Brüxer Schlossberg bietet sich ein sehr eindrucksvoller, wenn auch beklemmender Blick über das Nordböhmische Becken. Jenseits (zehn Kilometer nördlich) steigt abrupt die Mauer des Erzgebirges aus der dunstigen Industrieregion auf. Man kann in der Sternwarte auch den Blick zum Himmel lenken - was allerdings aufgrund der Luftverunreinigungen im Nordböhmischen Becken für ambitionierte Astronomen kaum spektakuläre Weitsichten bieten dürfte.

Kohle in Nordböhmen

Jirí steht vor dem Schaltpult des Abraumbaggers. Gerade geht die Sonne neben dem Stropnik auf - bald Zeit für Schichtwechsel. 30.000 Kubikmeter Sand, Ton und Lehm sind heute schon geschafft, 70.000 oder 80.000 Kubikmeter werden bis zum Abend noch folgen. Am Rande der Grube ist die Ortschaft Horní Jiretin zu erkennen. Wann wohl wird der Tagebau dort ankommen? Die Einwohner sträuben sich ja sehr heftig gegen die Zerstörung ihrer Heimat. Die Politiker sind derweil uneins, ob das Kohlemoratorium aus den 1990er Jahren weiter Bestand haben soll. Wenn ja, dann sähe es wahrscheinlich nicht gut aus für Jirís Arbeitsplatz, denn dann dürfte der Tagebau nicht weiter vergrößert werden.

Andererseits sind schon genug Dörfer zerstört worden. Jirí weiß das nur zu gut. Er selbst wohnte früher in Libkovice bei Lom. Die Kinder waren gerade geboren und spielten unter den alten Apfelbäumen hinter dem Haus, als einer der Nachbarn vorbeikam und erzählte, auch Libkovice müsste der Kohle weichen. Sie hatten damals mächtig mobil gemacht gegen diese Pläne, sich mit den kommunistischen Behörden angelegt und viel Zivilcourage gezeigt. Mit der "samtenen Revolution" 1989/90 schöpften sie Hoffnung, doch der Kampf schien kein Ende nehmen zu wollen. Ein Nachbar nach dem anderen gab schließlich dem Drängen und den finanziellen Verlockungen der Kohlegesellschaft nach. Zum Schluss - 1996 - führte die Polizei die jungen Umweltschützer ab, die sich um die Dorfkirche geschart hatten. Das Verrückte an dieser Geschichte: Libkovice wurde plattgemacht, aber die angeblich reichen Kohlevorräte darunter immer noch nicht angerührt. Wegen des Atomkraftwerks Temelín wäre das nicht mehr nötig, wurde erzählt. Aber Horní Jiretín soll trotzdem weg. So richtig sind die Abbauplanungen nicht zu verstehen.

95 Dörfer sind in Nordböhmen bereits der Kohle zum Opfer gefallen. Die meisten ihrer Bewohner lebten jedoch schon lange nicht mehr von der früher recht ertragreichen Landwirtschaft, die meisten Menschen der Region verdienen ihren Lebensunterhalt in den Tagebauen, Kraftwerken und Chemiefabriken oder in einer der Zulieferfirmen. Nicht wenige sind aber auch arbeitslos, weil heute moderne Technik ihren Job erledigt, und weil etliche der alten, verschlissenen Dreckschleudern schließen mussten.

Die Sonne steht mittlerweile zwei Handbreit hoch am Himmel. Wie durch Milchglas versuchen ihre Strahlen, sich einen Weg durch die abgasgeschwängerte Luft zu bahnen. Der Kraftwerksrauch von Komorany will heute wieder gar nicht abziehen!

Die Gedanken von Kohlekumpel Jirí gehen noch weiter zurück, in die Zeit seiner eigenen Kindheit. Damals, in den 1950ern, standen hier noch überall Fördertürme auf den Wiesen und Äckern.

Kohle wurde schon seit dem 19. Jahrhundert abgebaut, aber vor allem untertage. Das war nicht ungefährlich. Großvater hatte 1934 die große Kohlestaubexplosion im Oseker Nelson-Bergwerk nur mit viel Glück überlebt. Oder in Most, 1895 oder 1896: da waren die Schwemmsandschichten über den Kohlestolln nachgerutscht und sollen die halbe Stadt zusammenfallen lassen haben. Naja, von der alten Stadt Most ist ja nun sowieso nichts mehr übrig.

Vor hundert Jahren hatte die Gegend hier das dichteste Eisenbahnnetz Europas. Die gute nordböhmische Kohle war überall gefragt, sogar am Wiener Kaiser- und am sächsischen Königshof soll mit "Salonkohle" von hier geheizt worden sein! Einen beträchtlichen Industrialisierungsschub brachten 1939 die deutschen Besatzer, als tausende Zwangsarbeiter in Záluží - das hieß damals noch Maltheuern - eine riesige Chemiefabrik aus dem Boden stampfen mussten. Benzin und Diesel für ihre Kriegsfahrzeuge ließen die Deutschen hier herstellen. Benzin aus Kohle? Kaum noch vorstellbar der Aufwand, der damals betrieben wurde. Aber die Firma arbeitete noch bis in die 1970er Jahre nach dieser Technologie. Dann kam die Erdölleitung "Freundschaft" aus Russland, später noch die Erdgasleitung "Nordlicht". Die Chemiefabrik von Záluží wurde immer größer, inzwischen wird dort wohl alles Mögliche produziert, was sich aus Erdöl so herstellen lässt. Kohle brauchen die fast nur noch für Strom und Wärme. Das aber in gigantischen Größenordnungen.

Jirís Schicht ist geschafft für heute. Unvorstellbare 120 Millionen Kubikmeter Abraum bewegen er und seine Kollegen jedes Jahr in Nordböhmen, außerdem müssen 30 Millionen Kubikmeter Wasser abgepumpt werden. Vergleichbar drastische Landschaftsveränderungen hat es in der Gegend wahrscheinlich das letzte Mal gegeben, als die Kohle entstand - und als die Vulkane des Böhmischen Mittelgebirges noch Feuer und Asche spuckten. Giftige Dämpfe liegen auch heute in der Luft.

Kein Lüftchen weht, die Abgase hängen wiedermal fest zwischen Erzgebirge und Böhmischem Mittelgebirge. Freilich, die Luftqualität ist jetzt bedeutend besser als noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren. Damals wusste man manchmal kaum, ob man das noch überlebt. Die Befürchtungen waren nicht unberechtigt: die durchschnittliche Lebenserwartung lag fast zehn Jahre niedriger als in anderen europäischen Ländern. Am meisten Sorgen hatte sich Jirí immer um die Kinder gemacht. Ständig dieser Reizhusten!

Nein, da hat sich in den letzten Jahren doch einiges zum Besseren gewendet. Und trotzdem kommt Jirí immer öfter ins Grübeln. So kann es eigentlich nicht weiter gehen, dass die gesamte Landschaft umgewühlt wird, um die darunter verborgene Kohle hervorzuholen, diese zu verfeuern und dabei giftige Abgase zu produzieren - vom Treibhausgas Kohlendioxid ganz abgesehen!

Die Sonne strahlt kräftig vom blauen Himmel über dem Erzgebirgskamm bei Dlouhá Louka. Unten im Nordböhmischen Becken dröhnt die Industrie. Zu sehen ist sie nicht, eine dicke Wolkendecke verhüllt die geschundene Region. Jirí sitzt auf der Veranda seines Wochenendhauses und blinzelt ins grelle Sonnenlicht. Eine Solaranlage wäre hier oben eigentlich keine schlechte Idee!

(Jirí ist eine frei erfundene Person.)