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Reichstädt

Über etwa sechs Kilometer zieht sich das alte Waldhufendorf entlang des Reichstädter Baches hinauf zur Wasserscheide zwischen Roter und Wilder Weißeritz und steigt dabei von 360 auf 560 m Höhenlage an. Am oberen Ortsende befindet sich eine kleine, liebevoll rekonstruierte Windmühle - angeblich die kleinste und höchstgelegene Holländer-Windmühle Deutschlands.


Windmühle Reichstädt

Parallel zum Ort Reichstädt zieht sich auf dessen Westseite eine Reihe von Feldgehölzen auf dem Höhenrücken entlang. Diese "Bauernbüsche", teilweise noch mit naturnahen Eichen-Buchen-Beständen, teilweise aber auch in Fichtenforsten umgewandelt, markieren den Verlauf eines hundert bis zweihundert Meter breiten Granitporphyr-Streifens, der sich von Nassau her über das obere Reichstädter Ortsende bis zur Dippoldiswalder Siedlung zieht. An der höchsten Stelle tritt neben dem Granitporphyr noch eine Quarzporphyrkuppe zutage und bildet die Kahle Höhe (589 m). Direkt unterhalb stand bis 1872 eine Kirche, die wahrscheinlich bereits Ende des 13. Jahrhunderts als gemeinsames Gotteshaus für die umliegenden Dörfer gebaut worden war. Nach dem Abriss der "Kahle-Höhen-Kirche" ließen die Reichstädter Rittergutsherren an deren Stelle eine kleine Kapelle als Begräbnisstätte für ihre adligen Angehörigen errichten. Die damals gepflanzten Buchen, Berg-Ahorne und Lärchen bilden heute ein schönes Ensemble in der Landschaft, zusätzlich zu den weiten Ausblicken von der Kahlen Höhe.

Im Ort Reichstädt selbst sind die alten Bauerngehöfte gut zu erkennen, die meist zehn oder zwanzig Meter über dem Talboden errichtet worden waren, um vor eventuellen Hochwassergefahren sicher zu sein. In der Talaue selbst standen ursprünglich nur einige Mühlen. Erst als die Bevölkerungszahl anwuchs, mussten die landlosen Häusler ihre deutlich kleineren Anwesen auch direkt am Bach bauen.

Eine typische Waldhufenstruktur mit beiderseits vom Dorf davonstrebenden, langen und schmalen Feldstreifen erkennt man in der Reichstädter Flur heute kaum noch. Dies ist zum einen sicher die Folge der sozialistischen Landwirtschaftskollektivierung. Dieser fielen, wie bei vielen anderen Dörfern auch, die meisten Feldraine, Steinrücken und alten Pflugterrassen zum Opfer. Doch im unteren Teil der Gemarkung, nordwestlich des Dorfbaches, gab es auch zuvor keine typische Hufenstruktur. Dieses Land gehörte dem Rittergut Reichstädt.

Im Gegensatz zu den Ortschaften im oberen Ost-Erzgebirge, wo Klima und Böden keine landwirtschaftlichen Überschüsse ermöglichten, hatten sich in den begünstigteren Gebieten der unteren Berglagen im ausgehenden Mittelalter Rittergüter mit zum Teil beträchtlichem Landeigentum gebildet. Das von Reichstädt ist seit Anfang des 16. Jahrhundert nachweisbar. Das Schloss erhielt seine heutige Form im 18. Jahrhundert. Nach der Enteignung im Zuge der Bodenreform diente es zeitweise als Pionierhaus (in dem unter anderem auch sehr interessante naturkundliche Programme für Kinder geboten wurden), verfiel aber in seiner Bausubstanz zusehends. Seit 1998 ist die Anlage wieder in Privatbesitz und konnte deshalb durch aufwendige Sanierungsarbeiten erhalten werden. Zum Glück weiterhin öffentlich zugänglich ist der wieder gut gepflegte Schlosspark mit einem eindrucksvollen alten Baumbestand.


Feldgehölz auf dem Lämmerberg

Am anderen Ende des Schlossparks befand sich früher die große Gutsschäferei. Schafhaltung spielte in dieser Gegend eine große Rolle. Das Reichstädter Rittergut ließ über eintausend Schafe auf den Fluren des Ortes weiden, zur benachbarten Gutsschäferei Berreuth zählten noch einmal so viele Tiere. So verwundern die Bezeichnungen Lämmerberg (an der Straße nach Beerwalde) und Schafberg (nordwestlich des unteren Ortsendes) nicht. Beide sind mit schönen Baumgruppen bestanden. Zwischen beiden befindet sich ein Schwemmteich, in dem die Schafe erst "baden" mussten, bevor sie geschoren werden konnten. Da die wasserscheuen Tiere so etwas nicht freiwillig tun, war der Einsatz vieler dienstverpflichteter Untertanen der Rittergutsbesitzer notwendig. Im Lämmergrund zwischen Paulsdorf und Berreuth befinden sich ebenfalls Teiche, die sicherlich ebenfalls zur Reinigung der Schafswolle genutzt wurden.

Die Zeit der Gutsschäfereien ist längst vorbei, doch seit Mitte der 1990er Jahre gibt es hier die Schäferei Drutschmann mit Spinnstube und Hofladen in Reichstädt und Winterquartier für einige hundert Schafe in Berreuth. Im Sommerhalbjahr weiden die Tiere am Geisingberg und anderen Orten des oberen Ost-Erzgebirges und tragen dort wesentlich zur naturschutzgerechten Pflege der Bergwiesen bei. Die Spinnstube ist eine von 16 Stationen des Ulli-Uhu-Naturlernspieles der Grünen Liga Osterzgebirge.


Hohlweg zwischen Reichstädt und Dippoldiswalde

Vom unteren Ortsende führt ein Feldweg nach Dippoldiswalde, vorüber an den Grundmauern eines alten Kalkofens. Auf den Reichstädter Äckern wurde unter anderem Lein auf größerer Fläche angebaut. Zur Düngung dieser basenliebenden Pflanzen war Kalk erforderlich. Da der Prozess des Kalkbrennens mit ziemlicher Hitze verbunden ist, standen die Kalköfen aus Brandschutzgründen immer außerhalb der Ortschaften. Der Weg nach Dippoldiswalde muss früher oft benutzt worden sein, was an dem teilweise fast tunnelartig zugewachsenen Hohlwegcharakter zu erkennen ist. Es handelte sich nicht nur um den Verbindungsweg nach Reichstädt, sondern um eine Hauptausfallstraße der Amtsstadt Richtung Westen. Wo man aus diesem "Tunnel" heraustritt, begleiten nun schon 17jährige Bäume den Weg. Deren Pflanzung war eine der ersten Aktionen der Grünen Liga Osterzgebirge.

Schafhaltung im Ost-Erzgebirge

Es ist heute kaum noch vorstellbar: einstmals zogen zahllose Schafe über die Fluren des unteren und mittleren Ost-Erzgebirges und prägten die Landschaft dabei in ganz entscheidendem Maße mit. Fast alle Rittergüter besaßen eine größere Herde von teilweise weit über tausend Tieren. Diese weideten auf den Feldern, die im Rahmen der Dreifelderwirtschaft gerade ihre ein- bis mehrjährige Brachephase hatten, und auch in den damals überwiegend sehr lichten Wäldern. ("Es ist den Berreuth'schen herrschaftlichen Schafen von der Paulsdorfer Schäferei die Durchtrift durch die Paulsdorfer Heide zugestanden worden"). Verbunden waren die Weideflächen durch Triften, meist an der Peripherie der Gemarkungen gelegen.

Die besten Wollschafe Europas gab es in Spanien, und die spanischen Könige waren sehr darauf bedacht, dass ihre wertvolle Merino-Zucht im Lande blieb - bis 1765. Da ergriff einen von ihnen die Großzügigkeit: er schenkte dem vom Siebenjährigen Krieg arg gebeutelten sächsischen Kurfürstentum 200 Merinoschafe. Diese wurden dann zunächst in den herrschaftlichen Vorwerken rund um die Landshauptstadt mit den einheimischen Landschafen gekreuzt, und heraus kam eine äußerst leistungsfähige Rasse mit hervorragenden Woll-Eigenschaften. Ohne diesen durchschlagenden Züchtungserfolg wäre der rasante Aufschwung der sächsischen Tuchmanufakturen wahrscheinlich nicht möglich gewesen.

Allerdings ergab sich die Feinheit der Wolle nicht allein aus den Rasseeigenschaften. Erforderlich waren auch einige besondere Bedingungen, unter denen die Schafe gehalten werden mussten. Zu den wichtigsten gehörte: die Tiere brauchten strenge Diät! Zu fette Weiden - wie wir sie etwa heutzutage vorfinden - wäre zwar dem Fleischertrag zugute gekommen, aber die Wolle hätte an Qualität eingebüßt. Und diese brachte das Geld - angesichts des Prunks von Rittergutsschlössern (wie Reichstädt) offenbar nicht wenig!

Fette Weiden wie heutzutage gab es damals im Ost-Erzgebirge kaum, jedenfalls nicht fernab der Gehöfte. Über Jahrhunderte waren den abgelegenen Äckern mit den Ernten immer nur Nährstoffe entzogen worden, Düngung in Form von Viehmist hingegen gelangte vor allem auf die hofnahen, stickstoffbedürftigen "Krauthgärten". Dies überforderte auf lange Sicht selbst die meisten Gneisböden, deren natürliche Nährstoffausstattung eigentlich gar nicht so schlecht ist (von armen Porphyrböden ganz zu schweigen). Geringwüchsige Borstgrasrasen machten sich breit, die einerseits nur wenig eiweißreiches Futter boten, andererseits in ihrer lückigen Vegetationsstruktur Platz ließen für viele anspruchslose Kräuter. Diese Weiden würden heutzutage die Naturschützerherzen höher schlagen lassen, damals boten sie den Schafen wenig, aber gesundes Futter.

Die gutsherrschaftliche Schafhaltung war nicht unproblematisch für die Bauern. Sie hießen die Schäfer willkommen, wenn die Herden im Winter auf ihren Feldern weideten und ihnen mit dem Schafmist guter Dung zugute kam. Doch immer wieder beschwerten sie sich beim Kurfürsten, wenn die Rittergutsschafe im Frühjahr immer noch da waren und die austreibende Saat wegfraßen oder im Herbst kamen, bevor die Ernte eingefahren war. Bereits im 16. Jahrhundert hatte aus diesem Grund Kurfürst August die bäuerliche Schafhaltung stark eingeschränkt und teilweise ganz untersagt. Einzelne Schafe hinter dem Haus, wie sie heute zum Bild vieler Dörfer gehören, gab es damals nicht. Noch größer wurden die Probleme, als die Dreifelderwirtschaft abgelöst und statt der Brache Kartoffeln, Rüben, Klee und Wicken angebaut wurden. Hinzu kam noch, dass in den Staatsforsten die Weiderechte immer mehr beschränkt wurden, als die neue, geregelte Forstwirtschaft Einzug hielt. Dennoch: das Geschäft mit den Schafen blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts lukrativ.

Um 1870 änderte sich dies schlagartig. Hatten sich die sächsischen Schafzüchter zuvor noch gefreut, welche guten Preise ihre Zuchtböcke beim Verkauf nach Neuseeland, Australien oder Argentinien einbrachten, schlug dann die Globalisierung hart zurück. Billige Importe aus Übersee ließen den sächsischen Produzenten auf dem Wollmarkt keine Chance. Die allermeisten Schafherden wurden innerhalb weniger Jahre abgeschafft. Das Ost-Erzgebirge war von 1880 bis etwa 1935 fast schaffrei.

Erst die Nationalsozialisten mit ihrem Bestreben nach Autarkie des Reiches bemühten sich, die Menschen des Erzgebirges zur Schafhaltung zu bewegen. Dazu wurden Ostfriesische Milchschafe eingeführt. Diese Rasse steht zwar in der Wollqualität weit zurück hinter den Merinos, aber die Tiere können auch gemolken werden, bringen darüber hinaus einen ganz akzeptablen Fleischertrag, und sie sind geeignet für die die Einzelhaltung im Umfeld der Bauerngehöfte. Auch zu DDR-Zeiten, als Rinder und Felder in großen Landwirtschaftlichen Produktionskomplexen (LPG) zusammengefasst wurden, beließ die politische Führung den Dörflern das Recht zur Haltung von ein paar eigenen Schafen. Sie honorierte sogar mit staatlich gestützten Preisen die Abgabe von Wolle, immerhin bis zu 60 DDR-Mark pro Kilo.

"Ostfriesen" trifft man bis heute in vielen Dörfern des Ost-Erzgebirges, wenngleich sich deren Haltung wirtschaftlich kaum noch lohnt (Wollpreis: rund 60 Cent pro Kilo). Sie sorgen für gepflegtes Grünland rund um die Höfe, und sie fressen im Winter Heu. Da auch dieses teilweise heute noch in traditioneller Weise gewonnen wird, findet man innerhalb der Ortschaften mitunter erstaunlich bunte und artenreiche Wiesen.

Richtige Schafherden gab es zu DDR-Zeiten wieder, entweder als zusätzlich (meist wenig geliebte) Produktionsaufgabe einiger LPG oder beispielsweise im großen Dippoldiswalder Volksgut. 1990 war damit plötzlich Schluss. Doch ganz allmählich kehren die Schafe auch in die offene Landschaft zurück und sind hier ganz wichtig für die Landschaftspflege. Zum Beispiel die der Reichstädter Schäferei Drutschmann.